von Ulrich Coppel
Addis Abheba/ Mekelle/ Asmara: Am 28.11.2020 verbreitete Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed die Nachricht, dass nationale Äthiopische Verteidigungskräfte die volle Kontrolle über Mekelle, der Hauptstadt der nordäthiopischen Region Tigray, erlangt hätten. Ist dieses nun der Beginn des Endes, oder bloß ein vorläufiger Höhepunkt eines sich in den zurückliegenden 3 Wochen dramatisch zuspitzenden Konflikts zwischen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) und der äthiopischen Regierung um Premierminister Abiy Ahmed?
Nie wollte die TPLF im Kern etwas anderes als die Tigray-Ethnie in einem eigenen Land, unter ihrer eigenen Regierung zu vereinen. Dieses Land soll gemäß des TPLF-Programms ein föderaler Bundesstaat mit großen autonomen Befugnissen unter der Flagge Äthiopiens sein. In den 28 Jahren der äthiopischen Regierungskoalition (EPRDF) unter TPLF-Führung hatte sie es in der Hand, sowohl diesen Staat, als auch Gesamtäthiopien zu formen und prägen. Und das tat die TPLF auch: Ganz nach ihrem Gusto – sehr zum monetären Vorteil zahlreicher ihrer Funktionäre, sehr zum Vorteil der Tigray-Ehinie und ihrer Region gegenüber anderen, etwa bei Förder- und Aufbauprogrammen. Ihre Macht und ihren Einfluss sicherte die TPLF sich mittels starker Unterstützung anderer, insbesondere auch westlicher Staaten, zu deren treuem Erfüllungsgehilfen sie bei der Durchsetzung ihrer Interessen in weiten Teilen Afrikas wurde.
International verfolgte die TPLF ihre Ziele aggressiv, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Dazu zählten immer wieder Gewalt, Terror und Krieg.
Ihr Hauptziel hat die TPLF jedoch nie erreichen können: Die Ethnie der Tigray, so wie sie sie selber definiert, in einem eigenen, gesamten, autonomen Bundesland unter äthiopischer Flagge zu vereinen und zu regieren. Tigray gibt es – ihrer Lesart nach – nämlich auch jenseits äthiopischer Staatsgrenzen. In Eritrea und im Sudan. In Eritrea heissen diese Menschen Tigrinya, und stellen mit ungefähr 50 Prozent des Anteils an der gesamten Bevölkerung dort die größte von 9 gleichberechtigten Ethnien. Der eritreische Präsident Isayas Afewerki ist selber ein Tigrinya. Er, und die in Eritrea regierende Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) verstehen die Tigrinya jedoch als eine den Tigray nah verwandte, jedoch eigene Ethnie, mit einer der Tigray-Sprache ebenfalls nah verwandten eigenen Tigrinya-Sprache – jedoch mit kulturell, historisch und sprachlich gleichen Wurzeln (Habesha).
Ursprünge der TPLF
Die TPLF entstand 1974 nach dem Sturz des äthiopischen Kaisers Haile Selassi als eine Rebellenorganisation, die sich gegen das forthin mit eiserner Hand ganz Äthiopien beherrschende, kommunistische DERG-Regime unter General Mengistu Hailemariam zur Wehr setzte. 1988 schloss die TPLF mit 3 weiteren, ethnisch definierten Bewegungen innerhalb Äthiopiens eine Koalition mit dem Namen Revolutionäre Demokratische Front Der Äthiopischen Völker (EPRDF). Ihr, und weiteren Verbündeten, gelang es 1991 schließlich das Mengistu/ DERG – Regime zu stürzen. Vor Allem gelang ihr dies maßgeblich auch, weil sie seit ihrer Gründung bzw. während des äthiopischen Bürgerkrieges jahrzehntelang durch die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) unterstützt, und im Guerillakampf ausgebildet wurde. Die EPLF kämpfte, lange schon vor Gründung der TPLF, für eine Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien. Bis dass Großbritannien während des zweiten Weltkriegs die italienische Kolonialmacht aus ganz Italienisch-Ostafrika verdrängte, gehörten Eritrea, und später auch Äthiopien und Somalia zu Italienisch-Ostafrika. Nach Ende des zweiten Weltkrieges wurde Eritrea durch den Völkerbund zunächst dem äthiopischen Kaiserreich als autonome Provinz zugeschlagen. Zu Beginn der 1960er Jahre entzog der äthiopische Kaiser Haile Selassi Eritrea jedoch den autonomen Status und ordnete es komplett seiner eigenen zentralen Kontrolle unter, was der Auslöser des 30 Jahre andauernden Krieges der „Shabia“ genannten, multiethnischen und multireligiösen Unabhängigkeitskämpfer in Eritrea war. Zunächst, und bis zu seinem Sturz, gegen Haile Selassie und das Äthiopische Kaiserreich, und anschließend – gemeinsam mit Verbündeten, bis zu Endsieg gegen Mengistu/ DERG.
Die TPLF in den Jahrzehnten als die beherrschende Kraft der Regierung in Äthiopien
Wenngleich für die EPLF mit diesem Sieg, und der drei Jahre später per Referendum formal besiegelten Unabhängigkeit Eritreas ihr langersehntes Shabia-Ziel erreicht war, und sie sich als sichtbares Zeichen dessen von „Eritreische Volksbefreiungsfront“ in „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ umbenannte, war es das für die für eine Selbstbestimmung und Vereinigung der Tigray-Ethnie kämpfende TPLF lediglich zum Teil. Bald schon nach dem gemeinsam errungenen historischen Sturz des Mengistu/ DERG Regimes nämlich verfolgte die TPLF mit allen für sie verfügbaren Mitteln, unter Anderem dem Grenzkrieg um das Dorf Badme zwischen 1998-2000, Gebietsansprüche hinsichtlich der Heimatgebiete der Tigrinya-Ethnie in Eritrea. Das Motto und das Ziel der TPLF: Tigray-Tigrinya. Ihr eigener, programmatischer Name für diesen Kampf: „Woyane“.
Doch nachdem die TPLF 2018 die Kontrolle der nationalen äthiopischen EPRF-Regierungskoalition an den Oromo Abiy Ahmed verlor, strebt dieser die Stärkung einer multiethnisch und multireligiös geführten Zentralregierung Äthiopiens an: Das genaue Gegenteil von dem, was die christlichen TPLF-Woyanes anstreben. Nunmehr wieder bewaffnet gegen die nationale Regierung. In dem nach einem TPLF-Angriff auf nationale äthiopische Verteidigungskräfte Anfang November 2020 bewaffnet ausgetragenen Konflikt ist es äthiopischen Regierungseinheiten innerhalb von 3 Wochen jedoch gelungen die militärische Kontrolle über die regionale Regierung und Verwaltung der Tigray-Region und ihrer Hauptstadt Mekelle zu erreichen. Das bedeutet jedoch nicht zugleich das Ende der TPLF. Bereits Stunden nach Abiy Ahmeds Tweet anlässlich der Übernahme Mekelles durch äthiopische Verteidigungskräfte griff die TPLF Asmara und weitere Ziele in Eritrea mit Raketen an – zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen. Die TPLF ist hochgerüstet, und verfügt über sehr viele moderne Waffen. Nunmehr steht sie so da, wie sie einst begann: Als Woyane-Rebellentruppe. Möglich, dass sie sich nach dem Verlust ihrer Macht in Addis Abheba nun auf ihre Ziele in Eritrea konzentrieren könnte. Sicher, dass sie sich innerhalb Äthiopiens, im Kampf gegen die nationale Regierung nun wieder um radikale Verbündete aus anderen Ethnien bemüht – auch solchen, die sie in Zeiten ihrer nationalen Regierungsmacht bekämpft hat.
Der deutsche Aussenminister Heiko Maas formulierte angesichts eines Besuchs des äthiopischen Vize-Premiers Demeke Mekonnen am 27.11.2020 in Berlin: „Durch den Friedensschluss mit Eritrea und die mutigen Reformen im eigenen Land hat Äthiopien auch in Deutschland viel Sympathie gewonnen. Nur ein politischer Prozess, der perspektivisch auch den Reformkurs von Premier Abiy fortsetzt, kann das Land befrieden.“
Wenn dies ehrlich gemeint ist, bedeutet es mit Sicherheit noch einen längeren gemeinsamen Weg, in dem auf Worte auch Taten folgen müssen. Zum Beispiel hinsichtlich eines über Jahrzehnte seitens der TPLF aufgebauten internationalen Lobbynetzwerks. Nach wie vor besetzen TPLF-Kader, wie beispielsweise der ehemalige äthiopische Gesundheits- und Aussenminister Tedros Adhanom Ghebreyesus machtvolle Schnittstellen in der weltweiten Wirtschaft und Politik. Tedros ist amtierender Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Nahe direkte und indirekte Beziehungen werden der TPLF auch zu zahlreichen linksalternativen Stiftungen, konfessionellen christlichen Würdenträgern, oder zu bestimmten Menschenrechtsorganisationen, Hochschulen und Journalisten/ Medien nachgesagt. Sie sollen die TPLF nach wie vor unterstützen.
Vor allem aber dürfte die TPLF, infolge ihrer jahrzehntelangen Begünstigung der Tigray-Region auch nach wie vor innerhalb der dortigen Bevölkerung starken Rückhalt genießen. Ohne die gleichberechtigte Teilhabe der Tigray-Bevölkerung, sowie anderer äthiopischer Ethnien am ambitionierten nationalen Demokratisierungs- und Reformprozess der Regierung Abiys, wird sich das wiederholen, was einst überhaupt zur Gründung der TPLF und weiterer ethnischer Rebellenorganisationen geführt hat: Marginalitäts- und Minderwertigkeitskomplexe werden radikalen Widerstand, Genozide und Bürgerkriege erzeugen. Dies könnten Bürgerkriege unter genau denjenigen ethnischen und religiösen Kriegsparteien werden, die einst gemeinsam gegen Mengistu kämpften. Die TPLF hat sie nach ihrem historischen gemeinsamen Sieg allesamt diskriminiert und marginalisiert. Mit anderen Worten: Die Überwindung dessen, was die TPLF und weitere einst entstehen lies, ist nun der Schlüssel zu ihrem Ende in Frieden. Oder ihrem Wiedererstarken und Bürgerkrieg – je nach dem. Dabei geht es auch für Deutschland und Europa selber um sehr viel, nämlich um die Zukunft von im schlimmsten Fall womöglich Millionen von Geflüchteten, die ein auf ganz Ostafrika vollständig ausgedehnter Krieg verursachen könnte.
Weiterführende Links:
Die gefährliche Eskalation am Horn von Afrika – Hintergrundartikel